Nach dem Eurotransplant-Kongress: Was mich rund um die Organspende am meisten beschäftigt

Noordwijk/Frankfurt, 09.10.2017. Es ist Donnerstagnachmittag in Noordwijk an der holländischen Nordseeküste. Draußen tobt das Wetter, die Haare des niederländischen Königs Willem-Alexander liegen trotzdem akkurat. Er hat gerade den großen Veranstaltungssaal des Hotels van Oranje betreten, in dem die Feierstunde zum 50-jährigen Jubiläum von Eurotransplant stattfindet. Auf die Bühne tritt eine Frau meines Alters und erzählt in sehr ruhigen und abgeklärten Worten ihre Geschichte. Rafaella Bruno-Pinto, schlank, sportlich, Nichtraucherin, Mutter von zwei Kindern, wird Ende 2008 plötzlich von einem Husten geplagt. Ihre Familie ist davon irgendwann mehr genervt als besorgt und zwingt sie zum Arzt. Dieser diagnostiziert, dass sie eine sehr ernsthafte Krankheit hat, die ihre Lungen zerstört. Rafaella braucht eine Organspende. Im Juli 2010 arbeitet ihre Lunge nur noch mit 21 Prozent ihrer Kapazität, sie trägt seit Wochen ein Beatmungsgerät. „Ich wurde in die Klinik eingewiesen und wusste, dass ich sie entweder mit einer neuen Lunge verlasse werde oder gar nicht mehr.“ Rafaella Bruno-Pinto spricht trotz 300 Zuhörern absolut professionell, aber an einer Stelle versagt ihr die Stimme: als sie Tag und exakte Uhrzeit nennt, an der ihr mitgeteilt wurde, dass es eine Lunge für sie gibt. Heute muss sie zwar täglich viele Tabletten schlucken, um die Abstoßung der Lunge zu verhindern, aber sie führt ein glückliches und aktives Leben mit ihrer Familie.

Ethische Fragen rund um die Organspende

Es sind – wenig überraschend – die persönlichen Schicksale, die mich bewegen. Am eindrücklichsten aber finde ich die ethisch motivierten Beiträge und Diskussionen, denen ich zuhöre. Wenn man anfängt, sich gewisse Fragen zu stellen, findet man kein Ende mehr. Wie gehen wir mit Transplantationen für Raucher oder alkoholkranke Menschen um? Nach welchen Leitlinien richtet man sich, wenn demenzkranke Menschen ein Spenderorgan benötigen? Was gilt für den Umgang mit Flüchtlingen, die bei uns leben und möglicherweise noch nicht wissen, ob sie bleiben dürfen? Wie transparent muss sich eine erkrankte Person machen, die ein Spenderorgan erhalten will? An dieser Frage entzündete sich eine lebhafte Diskussion. Eine Rednerin berichtete von Fällen, speziell in den USA, in denen potentielle Empfänger nicht auf die Warteliste kommen, weil sie eine kriminelle Karriere aufweisen. Begeht ein solcher Straftäter mit einem Spenderorgan erneut ein Verbrechen und muss wieder ins Gefängnis, kann seine aufwändige medizinische Betreuung dort nicht gewährleistet werden. Zu diesem Vorgehen gibt es unter den anwesenden Experten hochgradig unterschiedliche Meinungen. Ein vermutlich niederländischer Herr aus dem Publikum meldete sich und berichtete, dass er anonym eine Niere gespendet habe (in Deutschland sind anonyme Nierenspenden nicht erlaubt). Er sagte, ihn habe es nicht interessiert, was für einen Menschen diese Niere rettet, ob es einer sei, der ein „gutes“ oder „schlechtes“ Leben führt. Aus Deutschland wurde berichtet, dass potentielle Nierenempfänger, die eine Niere nur von einem Verwandten oder von einer Person erhalten können, die ihnen sehr nahe steht, von einer Transplantation ausgeschlossen werden können, wenn sie den potentiellen Spender über so entscheidende Informationen wie z. B. eine kriminelle Vergangenheit nicht unterrichtet haben.

Are all lives equal?

Ich frage mich seit Freitag: Sind tatsächlich alle Leben gleich viel wert? Ich habe darauf keine eindeutige Antwort, und glücklicherweise erwartet sie von mir auch keiner. Aber ich werde versuchen, Antworten zusammenzutragen.
Über diese genannten Fragen hinaus gibt es ein Dutzend weitere Ansatzpunkte, in die ich mich einarbeiten werde. Es gibt so vieles, über das ich noch nie nachgedacht habe… Höchste Zeit, es jetzt zu tun.