Fakten zu Suizid: Zusammenhang von Depression und Selbsttötung

Frankfurt, 25.09.2017. Ich werde diese Woche in Leipzig ein Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Hegerl führen. Er ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Präsident der European Alliance Against Depression, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig sowie Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie. Er forscht seit vielen Jahren zum Zusammenhang von Depressionen und Suizidalität.

Was führt zu Suizid?

Im Folgenden will ich einen Argumentationsstrang aus einem Aufsatz von Professor Hegerl, den er gemeinsam mit seinen Kollegen Koburger und Hug 2015 für die Fachzeitschrift Nervenheilkunde 11/2015 verfasst hat, abbilden. In der Forschung gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Depression und psychosoziale Faktoren wie z. B. Stress, Arbeitslosigkeit, körperliche Erkrankungen interagieren und auch Suizide hervorrufen. Der französische Soziologe Emile Durkheim vertrat die auch heute noch unter seinen Anhängern gültige Auffassung, dass Suizide die Folge sozialer Verhältnisse sind. Arbeitslosigkeit, Stress, negative Lebensereignisse wie das Zerbrechen einer Partnerschaft werden sowohl als Ursache der Depression als auch von suizidalen Handlungen angesehen.

Professor Hegerl et al. führen dazu aus:
Die Annahme, dass diese psychosozialen Faktoren auch die wesentliche Ursache für Depression und suizidales Verhalten sind, ist deshalb zunächst naheliegend. Die klinische Erfahrung und empirische Daten lehren jedoch, derartige, oft naheliegend erscheinende Kausalitätszuordnungen kritisch zu hinterfragen.

Suizidentwicklung in den östlichen Bundesländern nach der Wiedervereinigung

Angeführt werden daraufhin drei Argumente, von denen ich nur das erste widergeben will:
Die Wiedervereinigung von Deutschland 1989 führte zu massivem Sozialstress in den östlichen Bundesländern. Für viele Menschen kam es zu abrupten Brüchen im Berufsweg und der sozialen Rolle, es kam zu tief gehenden Veränderungen von Werten und Orientierungen, sodass es, entsprechend der Theorie des Soziologen Emile Durkheim zu einer dramatischen Zunahme von Suizidraten hätte kommen müssen. Gefunden wurde in den östlichen Bundesländern jedoch eine der deutlichsten Abnahmen der Suizidraten in ganz Europa nach der Wiedervereinigung. Faktoren wie die Abnahme von Autopsien oder die Entgiftung des Hausgases in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung können zu dem Rückgang der Suizidraten mit beigetragen haben, erklären aber nicht die drastische Diskrepanz zu dem, was nach der Theorie Durkheims zu erwarten gewesen wäre. Dieser Rückgang der Suizide in den östlichen Bundesländern nach der Wiedervereinigung kann als eine ziemlich klare Falsifikation der Theorie von Durkheim angesehen werden.

Ich finde weniger die Falsifikation der Theorie als mehr den Blick auf die Verhältnisse in der DDR und auf jene nach der Wiedervereinigung hochspannend. Im Gespräch mit Prof. Hegerl werde ich nachfragen, wie mit Suiziden in der DDR umgegangen wurde.

Ein ganz und gar unsachliches Ende dieser Notiz: Als ich heute über den „massiven Sozialstress“ las, der die Menschen in den östlichen Bundesländern nach der Wiedervereinigung ereilte, konnte ich mir am Tag nach der Bundestagswahl mit der AfD als stärkster Kraft in Sachsen einen Gedanken nicht verkneifen: Ist dieses Wahlverhalten eine Spätfolge?